Nach einer Diskussion mit Kollegen und jetzt auch durch das Thema Social Learning beim #opco11 stellt sich für mich immer wieder die Frage: Ab wann ist denn etwas „social“?
Bestandsaufnahme
Ich habe mal in meinen Delicious- und BibSonomy Tags geschaut, was ich eigentlich so für „social“ halte. Ich unterscheide bei meinen Tags dabei folgende Untergruppen:
Social Capital, Social Bookmarking, Social Learning, Social Media, Social Network, Social Software, Social Tagging
Dabei ist die Frage aber eigentlich falsch gestellt, denn schon die Entscheidung für diese Tags habe ich (vor allem bei Delicious) nicht allein getroffen. Die Nutzer, die vor mir einen Bookmark gespeichert haben, die haben mich dabei schon ein ganzes Stück beeinflusst, indem mir die von ihnen häufig verwendeten Tags vorgeschlagen wurden.
Bleibt alles anders? Social Software vs. Groupware, Social Tagging vs. Folksonomy
Nun ist es aber so, dass die Wortverbindungen mit „Social“ ohnehin erst in den letzten Jahren in meinen Sprachgebrauch übergegangen sind. Vorher war immer alles „kollaborativ“ und statt Social Software gab es Groupware. Aber was ist heute anders?
Dazu meinen KOCH & RICHTER (2008, S. 20), dass das Neue an Social Software vor allem der Bottom-Up-Ansatz und die damit größere Anzahl der Nutzer ist. Dabei stehen die Unterstützung von Communities und sozialen Netzwerken im Vordergrund: Die Systeme stellen zwar nette Funktionen bereit, geben aber nicht vor, wie diese eingesetzt werden sollen. Klassische Groupware (Ihr wisst schon: BSCW, MS Exchange, Sharepoint usw.) ist dagegen schon auf die konkrete Unterstützung von Teams ausgerichtet, die Top down organisierten werden (= es gibt Rollen / Funktionen zur Administration und hierarchischen Aufgabenverteilung).
Eben dieser Richtungswechsel ist auch bei den Systemen zu erkennen, die Social Tagging zur Verschlagwortung verschiedener Ressourcen einsetzen, also Social-Bookmarking-Systeme, wie delicious oder diigo, oder Media-Sharing-Dienste, wie flickr oder youtube: Im Gegensatz zu früheren Taxonomien, also vordefinierten Ordnungskatalogen, in die Ressourcen eingepflegt werden mussten, legen die Nutzer die Begriffe fest (vgl. GOLDER & HUBERMANN 2005, S. 1; SCHMIDT 2006, S.43; Vander Wal 2007, Folie 18).
Ich will das jetzt hier nicht weiterführen, sondern nur noch mit einem Verweis auf den Beitrag von Stephen DOWNES (2005) bestätigen, dass das Social Learning oder e-Learning 2.0 ebenfalls auf den Bottom-Up-Ansatz baut.
Social heißt demnach…
Man könnte jetzt kurz abhandeln: Social ist die Übersetzung von kollaborativ für Anarchisten oder Edupunks. Das mag für die Anfangsphase stimmen, in der Facebook noch ein digitales Poesiealbum für Studenten war, aber mittlerweile lässt sich diese Aussage nicht mehr so einfach treffen. Social [Software; Media; Networks;…] werden zunehmend auch in Organisationen eingesetzt und sind somit der Grundstein für das Enterprise-2.0-Leitbild. Ich will mich also vorsichtig herantasten:
These 1: Social heißt, den Nutzer entscheiden zu lassen, wie er teilnehmen möchte
Die Grundlage von Social Software ist die Offenheit für verschiedene Nutzungsarten, oft auch gleichzeitig. Dabei ist man aber auch ein ganzes Stück für das Ergebnis verantwortlich: Die typischen Argumente von Kritikern, die hinter Twitter ein Werkzeug zur statistischen Auswertung vom Kaffeekonsum vermuten, bestätigen sich natürlich dadurch, wenn man „den falschen Leuten“ folgt. Ebenso habe ich bisher noch keinen Mehrwert von Diigo gegenüber delicious erkannt, weil ich (bisher) noch keine sinnvollen Einsatzszenarien für Listen und Gruppen etc. dort erschlossen habe und dann doch die Geschwindigkeit und Einfachheit von delicious vorziehe.
Um das Ganze auf das Social Learning zurückzuführen: Alle Teilnehmer müssen in einem gewissen Maße Einfluss auf die Gestaltung des Lernprozesses haben. Damit würden Vorträge, bei denen man nur die Möglichkeit zum Zuhören hat, nicht als Social Learning eingeordnet werden (ich würde zu- oder weghören nicht als eigene Gestaltung bezeichnen). Wenn ich aber mit anderen darüber diskutieren kann, z.B. per Twitter, Etherpad, Chat oder kleinen gekritzelten Zetteln, die hin- und hergehen wie in der Schule, dann schon. Die Teilnehmer können Fragen stellen, Meinungen, weiteres Wissen und Interpretationen teilen und diskutieren und haben die Chance auf ein besser reflektiertes Ergebnis – tragen aber auch das Risiko, sich festzuquatschen, nicht voranzukommen oder Aspekte unbeleuchtet zu lassen.
These 2: Kommunikation, die transparent ist und sich einfach initiieren lässt, ist Social
Zurück zur Groupware: auch hier gibt es Werkzeuge zur Kommunikationsunterstützung: Chats, Foren, Nachrichtensysteme, Gruppenkalender etc. Diese bestehen aber nebeneinander und müssen zur Initiierung der Kommunikation explizit geöffnet werden. In Social Software werden dagegen Aktivitäten und Kommunikation weitestgehend zusammengeführt: Nutzer können direkt, z.B. per Kommentar oder @-Reply angesprochen werden, Nachrichten können selbstverständlich eingebettete Links, Grafiken oder Videos enthalten, Diskussionen lassen sich nachverfolgen und Themen werden per Hashtag gruppiert – und das ohne, dass ich irgendwelche speziellen Adressdaten der anderen Nutzer brauche, es reicht der Login-Name, ein Hastag oder das weiterleiten per Retweet.
These 3: Social = Die Teilnehmer werden als Individuum wahrgenommen (?)
Ein Kollege meinte mal (überspitzt): Sobald ein Avatarbild dabei ist, wäre es „social“. Ich glaube, so ganz falsch liegt er damit nicht, denn das Identitätsmanagement ist ein wesentlicher Bestandteil von Social Software (vgl. RICHTER & KOCH 2009, S.3). Während in Groupware so etwas wie „Awareness“ noch eines der besonderen (wenn überhaupt verfügbaren) Features waren und sich oft auf Informationen wie „wer ist online“ oder „2 neue Dokumente“ beschränkte, ist die Wahrnehmung anderer Nutzer DAS zentrale Prinzip von Social Software überhaupt. Hier kommt zuerst „Oh, Anja hat einen neuen Blogeintrag“ und dann „Was schreibt sie denn?“. Die Frage ist nicht mehr „Worüber will man informiert werden?“, sondern „Über wen?“. Und das Ganze funktioniert auch über Plattformen hinweg: Man folgt Personen auf Twitter, deren Blog man liest oder mit denen man (real und/oder über Social Networks) befreundet ist.
„Oh dear! Oh dear! I shall be late!“ (CARROLL 1865)
Die #opco11-Themenwoche zum Social Learning ist ja eigentlich vorbei, aber vielleicht findet sich ja doch der ein oder andere, den das Thema noch nicht ganz loslassen will. Immerhin geht es ja genau darum: Wir gestalten die Lernprozesse selbst, somit auch Geschwindigkeit, Dauer und Intensität. Das einzige, was uns noch zu begrenzen scheint, ist die Zeit, die wir haben, nicht haben, die uns (nicht) gegeben wird oder die wir uns (nicht) nehmen.
Zum Nachlesen
- Carroll, L. (1865). Alice’s Adventures in Wonderland. web edition published by eBooks@Adelaide.
- Downes, S. (2005). E-learning 2.0. eLearn, 2005(10), 1.
- Golder, S., & Huberman, B. A. (2005). The Structure of Collaborative Tagging Systems. Journal of Information Science, 32(2), 198-208.
- Koch, M., & Richter, A. (2008). Enterprise 2.0 – Planung, Einführung und erfolgreicher Einsatz von Social Software in Unternehmen. München: Oldenbourg.
- Richter, A., & Koch, M. (2009). Kooperatives Lernen mit Social Networking Services. In A. Hohenstein & K. Wilbers (Eds.), (Vol. 28. Ergänzungslieferung). Köln: Deutscher Wirtschaftsdienst, Wolters Kluwer Deutschland.
- Schmidt, J. (2006). Social Software: Onlinegestütztes Informations-, Identitäts- und Beziehungsmanagement. Neue Soziale Bewegungen, 19(2), 37-47.
- Vander Wal, T. (2007). Tagging that Works. San Francisco.
19. Mai 2011 um 2:20 Uhr
Hallo Anja,
mir gefallen deine „social“ Begriffserklärungen ausgezeichnet.
Sehr schöne Schlußfolgerung:
„Wir gestalten die Lernprozesse selbst, somit auch Geschwindigkeit, Dauer und Intensität. “
Aber tun wir das wirklich?
Oder ist es nicht viel mehr so, dass wir einmal uns eine Lernumgebung basteln und dann nur noch allen tweets, blogs, news usw. hinterher hecheln und dann stöhnen „ich würde so gerne, aber…“ – sowie die vollgeschriebenen Vokabelhefte, die nie jemand öffnet.
Und wozu brauchen wir dann in Zukunft noch Lehrer?
Als personifiziertes schlechtes Gewissen?
Oh, es ist spät. Ich nehme mir mal Zeit ins Bett zu gehen. Danke für deinen inspirierenden Beitrag.
24. Mai 2011 um 22:20 Uhr
Hallo Claudia und sorry, dass ich jetzt erst antworte, ich musste anderen Verpflichtungen (und freiwillig gewählten Aktivitäten) „hinterherhecheln“.
Gleich mal zu dieser Frage: Gestalten oder hinterherhecheln? In meinem Fall ist trifft beides zu: Ich kann in einigen Fällen bestimmen, wie ich wann wo etwas lerne / bearbeite, aber eben nicht immer. Daher stapeln sich in diversen Tools auch die Einträge mit ToDo-Tag (oder wie ein Kollege meinte: „ToDo heißt nicht TO write DOwn and then trallalla“). Aber manchmal ist das vielleicht der Preis der Freiheit: Dass man sich zwischen den vielen Wahlmöglichkeiten nicht immer entscheiden kann.
Und (Achtung, spitzen Überleitung) eben dafür werden Lehrer/Tutoren/Dozenten wohl nicht abzuschaffen sein. Die passen nämlich auf, dass wir bei der Freiheit links und rechts die wesentlichen Lernziele erreichen.
26. Mai 2011 um 9:54 Uhr
Moin,
schöner und interessanter Artikel.
Meiner Meinung nach ist unser persönliches Zeitmanagement nur einer der limitierenden Faktoren. Als Bachelorstudent befinde ich mich in verschiedenen Bezugssystemen, die mir (teilweise unter Androhung/-wendung von Restriktion) hart in meine Zeiteinteilung reingrätschen. Parallel dazu sind fast alle meine Lehrenden nicht in der Lage/Willens netzbasierte Socialapplikationen zu nutzen oder zuzulassen. Noch schlimmer ist es leider bei den Kommilitonen. So habe ich auf der einen Seite die Option die Möglichkeiten von digital Sociallearning mit Leuten zu nutzen, die mit meinem Studium nichts zu tun haben (z. B. #opco11) und auf der anderen Seite den Zwang der Drop-Down-Linearität des unreflektierten Bulimielenens des Bachelorstudiums nachzugeben.